Die Meldung geht kurz nach 12 Uhr ein: „MANV 20 – Explosion beim Grillfest“ Massenanfall von Verletzten, circa 20 Personen verletzt. 12.24 Uhr: Das erste Einsatzfahrzeug trifft am Zielort ein. Der Leitende Notarzt und die Organisatorische Leiterin Rettungsdienst verschaffen sich einen Überblick.
Über das gesamte Gelände verteilt: viele Verletzte. Hilfeschreie aus allen Richtungen. „Lauft nicht weg.“ „Ich habe Schmerzen.“ „Ich blute.“ „Wo seid ihr?“ „Helft mir!“ „Was ist mit mir? Was ist mit meiner Hand?“ Zwei junge Männer liegen nicht weit entfernt von einem Gasgrill in einer Ecke – beide mit Verbrennungen, im Gesicht und am Oberkörper. Wenige Meter weiter: Eine junge Frau, ganz still, bewegungslos. Wieder einige Meter weiter eine Frau mit einer stark blutenden Wunde am Oberarm, eine Scherbe steckt noch im Arm. Ein Mann mit einer Rauchvergiftung. Eine Frau, die wohl mit Schürfwunden davongekommen ist. Eine andere, der die Verpuffung eine Hand abgerissen hat. Eine Babyschale – leer. Hat ein Baby darin gelegen?
Die eingetroffenen Rettungskräfte gehen von einem zum anderen, kategorisieren die Schwere der Verletzungen, gehen weiter. Die Verletzten rufen hinter ihnen her. Wo es nicht um Leben und Tod geht, muss ihre Behandlung noch warten. Der Druck wächst, der Adrenalinspiegel steigt, es ist schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Chaos. Auf 18 Unfallopfer kommen ein Arzt und drei Sanitäter*innen.
12.40 Uhr: Eintreffen von acht weiteren Sanitäter*innen. Jetzt sind es 12 Helfer*innen auf 18 Unfallopfer. Die Schwerstverletzten werden als Erstes versorgt, nach und nach auch alle anderen. Sie werden für den Transport in eine der umliegenden Kliniken vorbereitet. Es ist immer noch laut. Die Helfer*innen sind im Stress.
Ein Szenario wie dieses kann sich praktisch jederzeit und überall ereignen. Am Sonntag, 21. Mai, 12 Uhr mittags, war jedoch alles von langer Hand geplant: eine Übung, um Medizinstudierenden einen praxisnahen Einblick in die Katastrophenhilfe zu ermöglichen. „MANV-Simulation“, so stand es auf dem Plan. Die Studierenden aus dem 4. oder 5. Studienjahr übernahmen die Aufgaben von Notärzt*innen und Sanitäter*innen, die Verletzten wurden von Notfalldarsteller*innen des Jugendrotkreuzes Minden gemimt – gut geschult, mit großem Einsatz, Schminke und viel Kunstblut.
Ein Wochenende lang hatten sich die zwölf Medizinstudierenden der Ruhr-Universität Bochum am Medizin Campus OWL im Rahmen eines Wahlfachs im Querschnittbereich Notfallmedizin mit dem Thema „Chaos überwinden – Großschadenslagen und Katastrophenmedizin“ befasst. Am Samstag zum großen Teil noch theoretisch: Es ging um den Aufbau von Katastrophen- und Zivilschutz, um Gefahrstoffe, um Geräte- und Fahrzeugkunde, um eine Einführung in den Digitalfunk und um die medizinische Einsatzleitung: Wie muss in einer Großschadenslage vorgegangen werden, um möglichst viele Leben zu retten? Am Sonntag fand dann am Vormittag eine erste praktische Übung mit „Papierpatienten“ am DLRG-Bootshaus statt.
Kurz darauf dann der Realitätscheck: Auf dem Gelände des DRK-Zentrums in Minden, Kutenhauser Straße, wurden die Studierenden mit einem Szenario konfrontiert, das so wirklichkeitsgetreu wie nur möglich gestaltet war: „MANV 20 – Explosion beim Grillfest der Jugendfeuerwehr“.
Die Idee hatte Tobias Vollmer, PJ-Student am Campus Minden und DRK-Mitglied. Schon seit 2013 ist er im Sanitätsdienst und Katastrophenschutz aktiv, hat über diesen Weg erst zum Medizinstudium gefunden. Der Bereich werde zwar auch im Studium angeschnitten, „aber man könnte mehr machen“, fand Vollmer. Warum also nicht das DRK einbinden, um den Studierenden gemeinsam das Thema näherzubringen?
Tobias Vollmer wandte sich mit dieser Idee an Dr. Jan Persson, Lehrkoordinator für den Querschnittsbereich Notfallmedizin am Medizin Campus OWL. „Die Kommunikation zwischen Studierenden und Dozent*innen klappt gut hier in Minden. Ich habe ihm also eine E-Mail geschrieben und auch gleich ein positives Feedback bekommen“, berichtet Vollmer. Dr. Persson bestätigt: „Ich war sofort begeistert, da wir diesen Bereich als Klinikum nicht allein darstellen können. Viele meiner Kolleg*innen sind zwar als sogenannte Leitende Notärzt*innen tätig, arbeiten dann aber im Einsatzfall mit dem Equipment der Feuerwehren und Hilfsorganisationen, sodass wir bei einem solchen Lehrangebot auf deren Unterstützung angewiesen sind. Außerdem fand ich es toll, dass die Initiative für eine Lehrveranstaltung damit aus den Reihen der Studierenden kam.“
Neue Ideen für das Medizinstudium
Tobias Vollmer konnte nicht nur Dr. Persson von seiner Idee überzeugen, sondern auch die Ruhr-Universität Bochum. Sie förderte das Konzept als „studentisches Initiativprojekt“ mit 1.500 Euro, von denen Schulungsmaterial, medizinisches Equipment und Verbrauchsmaterial für die Übung angeschafft werden konnten. Die Planung war aufwendig: Alles in allem dauerte es anderthalb Jahre bis zur Umsetzung. Neben Tobias Vollmer und Dr. Jan Persson gehörten auch Dr. Karsten Burow, Beauftragter der Leitenden Notarztgruppe des Kreises Minden-Lübbecke, und Alexander Brink vom DRK Ortsverein Minden zum Team der Organisatoren. Bei der Umsetzung arbeiteten Universitätsklinik, DRK, Kreis und DLRG Hand in Hand.
Bei den Studierenden war die Resonanz einhellig positiv. Nur wenige hatten vorher bereits Erfahrungen im Bereich des Rettungsdienstes und Katastrophenschutzes. „Ich war maximal unter Stress.“ So erging es den meisten. „Aber das ist in so einer Situation ganz normal“, weiß Dr. Karsten Burow, der als Beobachter und Ansprechpartner für die Studierenden vor Ort war. „Auch das Chaos am Anfang gehört dazu. Unsere Aufgabe ist es, das Chaos zu überwinden.“
Auch die Organisatoren waren mehr als zufrieden. „Die Studierenden waren gefordert, aber nicht überfordert. Sie haben sich super eingefunden in die Lage, die ja etwas ganz anderes ist als der klinische Alltag,“ sagt Tobias Vollmer. So sieht es auch Dr. Persson: „Die beiden Übungen am Sonntag waren für die Studierenden ‚Erlebnispädagogik‘. Auch wenn sie zu ihrem jetzigen Ausbildungsstand den Einsatz nicht perfekt abarbeiten können, so haben sie dennoch einmal sehr realitätsnah ‚erleben‘ können, wie sich ihre vielleicht zukünftige Rolle als Leitende*r Notarzt*Notärztin anfühlt und welche nicht-technischen Kompetenzen bzw. menschlichen Faktoren hierbei gefragt sind.“
Notfalldarsteller vom Jugendrotkreuz Minden
Und die Notfalldarsteller*innen des DRK? Die haben ihre Rollen so gut gespielt und sich – inklusive zerrissener Kleidung – so perfekt dafür herrichten lassen, dass der*die eine oder andere Studierende bei ihrem Anblick erst einmal schlucken musste: „Es war wohl für viele ein sehr besonderes Erlebnis“, so Persson zusammenfassend.
Nach der gelungenen Premiere möchten die Organisatoren die Veranstaltung gern auch im kommenden Studienjahr – mit leichten Veränderungen – wiederholen. Dr. Jan Persson: „Wir wollen das Joint Venture zwischen dem Querschnittsbereich Notfallmedizin am JWK und dem DRK Ortsverein Minden gerne weiterführen. Auch fürdas DRK ist die Veranstaltung eine Gelegenheit, seine wichtige ehrenamtliche Arbeit bei den angehenden Ärztinnen und Ärzten zu präsentieren. Vielleicht haben wir ja Interesse bei den Studierenden geweckt, sich während des Studiums oder auch später als Ärztin*Arzt in einer der Hilfsorganisationen ehrenamtlich zu engagieren.“
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