Eigentlich war Henry Dunant auf Gewinn aus. Um mit Napoléon III. Geschäftliches zu besprechen, reiste er dem wieder einmal kriegführenden Franzosenkaiser nach Italien hinterher. Dabei wurde Dunant Zeuge der Schlacht von Solferino. Die Hilflosigkeit der Verwundeten und Sterbenden ließ dem Schweizer keine Ruhe.
Mit vier gleichgesinnten Humanisten schuf Dunant eine Organisation für freiwillige und neutrale Kriegssanitäter. Am 17. Februar 1863 gaben die Gründer ihr bei einem Treffen in Genf den Namen «Internationales Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege». Wenig später wurde ein schlichtes rotes Kreuz zum Symbol bestimmt. 150 Jahre danach ist das Gründungsjubiläum des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) Anlass, den oft lebensgefährlichen Einsatz Tausender freiwilliger Helfer zu würdigen. Als Grund für ausgelassene Feiern gilt das Jubiläum im IKRK-Hauptquartier an der Avenue de la Paix - gegenüber des europäischen Sitzes der Vereinten Nationen - hingegen nicht.
Warum nicht, macht schon die Aufzählung einiger Länder klar: Syrien, Afghanistan, Irak, Somalia, Mali. Krisen, Kriege und Katastrophen fügen unzähligen Menschen unermessliches Leid zu. Die Waffen, die dabei zum Einsatz kommen, werden immer gefährlicher, die Kämpfer immer unberechenbarer, klagte IKRK-Präsident Peter Maurer aus Anlass des Jubiläums.
Fast sieben Millionen Kinder, Frauen und Männer waren nach dem im vergangenen Sommer veröffentlichten IKRK-Jahresbericht allein 2011 in Notregionen auf medizinische Versorgung durch Rot-Kreuz-Mitarbeiter angewiesen. Auch 2013 steht das Komitee vor großen Herausforderungen. Dazu gehört, dass das Rote Kreuz sowie der Rote Halbmond in schwer umkämpften Gebieten oft die einzigen dort tätigen internationalen Hilfsorganisationen sind.
Ein Grund dafür ist das schon von Dunant geprägte Gebot strikter Unabhängigkeit, Überparteilichkeit und Neutralität. Wer zwischen allen Fronten helfen will, muss sich aus der Politik heraushalten. Sonst wäre es kaum möglich, Sanitäter und Ärzte in Kriegsgebiete zu schicken, in denen die jeweiligen Machthaber eigentlich keine ausländischen Helfer dulden.
Auch deshalb erwies sich die Schweiz mit ihrer traditionellen politischen Neutralität als ideale Heimat für das IKRK. Bis heute besteht die Führung des unabhängigen Komitee aus Schweizer Staatsbürgern, einschließlich des jeweiligen Präsidenten. Die konkrete Hilfe vor Ort leisten IKRK-Delegierte und Tausende Freiwillige nationaler Rotkreuz- oder Rothalbmond-Gesellschaften.
Neutralität und Unabhängigkeit sind auch Grundlagen für die Rolle des IKRK als Hüter des humanitären Völkerrechts. Ziel dieses einst mit von Dunant initiierten Regelwerks auf der Basis der Genfer Konventionen ist der Schutz von Zivilisten, Gefangenen und Verwundeten, aber auch von Wohn- und Krankenhäusern, Schulen und Versorgungssystemen in bewaffneten Konflikten.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Diskretion um absolut jeden Preis gewahrt wurde. Dies ist auch eine Lehre aus dem Verhalten des IKRK im Angesicht der Nazi-Verbrechen. Als «größtes Versagen» bezeichnet es das Komitee, dass damals nicht energisch genug versucht wurde, Juden vor der Vernichtung zu retten. «Gebunden an seine traditionellen Prozeduren und behindert durch die Bindungen an das Schweizer Establishment war es unfähig zu entscheidenden Aktionen oder öffentlichem Protest», räumt das IKRK auch auf seiner Website ein.
Wenn heute Machthaber das humanitäre Völkerrecht mit Füßen treten oder gegen Zusagen für Einsatzmöglichkeiten von Helfern verstoßen, werden sie vom IKRK früher oder später auch öffentlich angezählt. So beklagte IKRK-Präsident Maurer vor der Presse die Gewalt gegen Zivilisten in Syrien und forderte nachdrücklich vom Assad-Regime Zugang für Helfer zu den Notleidenden.
Maurers Vorgänger Jakob Kellenberger hatte für Aufsehen gesorgt, als er deutlich machte, dass das Einhalten des humanitären Völkerrechts nicht nur bei Diktaturen angemahnt, sondern erst recht von westlichen Demokratien erwartet wird. Öffentlich prangerte er die Misshandlung irakischer Häftlinge in US-Gefängnissen an und forderte Zugang für IKRK-Delegierte zu Insassen des US-Gefangenenlagers Guantánamo - was ihnen schließlich auch gewährt wurde.
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